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Norwegen und der EWR



Norwegen und die Schweiz haben Einiges gemeinsam. Nicht nur gehören beide Staaten zu den reichsten der Welt. Beide Länder sind nicht Mitglieder der EU, beide Länder haben sich aber der EU angepasst. Norwegen im EWR und die Schweiz ausserhalb dieser Institution. Während die Schweiz Gesetze übernimmt, die ihr aus wirtschaftlichen oder machtinnenpolitischen Gründen in den Kram passen, muss Norwegen die EWR Gesetze ohne Mitsprache übernehmen.

Thomas Hug, Oslo-

Eine Szene wenige Tage nach dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens der Europäischen Union (EU) am vergangen 25. März 2001. Die Fähre aus dem "Drittland" Estland ist in Stockholm angekommen und die Pässe aller Passagiere werden genau kontrolliert. Mit dabei auf der Fähre vom estnischen Tallinn ist ein Gruppe junger Norweger und Norwegerinnen. Wo sollen wir nun anstehen, fragen sich die Norweger. In der EU-Kolonne oder in der Kolonne für Drittländer. Sie entschliessen sich für die Nicht-EU-Kolonne und werden dann vom schwedischen Zoll darauf aufmerksam gemacht, sie hätten in der Schlange für EU-Bürger warten müssen.

Die Szene kann in mancher Hinsicht als Symbol für Norwegens Haltung gegenüber der EU dienen. Das skandinavische Land hat zwar einen politischen Kurs ausserhalb der Union gewählt, ist aber trotz dem selbst bestimmten "Ausserhalb"-Kurs stark abhängig von der Union und passt sich zudem ständig mehr dem EU-System an.

Das EU-Nein Norwegens an der Urne bereits liegt über sechs Jahre zurück. Im November 1994 hatten die norwegischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger einen Beitritt zur Europäischen Union (EU) mit einer Mehrheit von 53,3 Prozent abgelehnt. Dafür ist Norwegen aber seit Anfang 1994 durch das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit der EU verbunden. Der Beitritt zum EWR wurde 1992 vom Stortinget (Parlament) beschlossen, das Volk wurde zu dieser Frage nicht konsultiert.

Seither haben wechselnde Regierungen immer wieder beteuert, der Wille des Volkes sei zu respektieren. Dennoch konnte oder wollte sich Norwegen mit seinen 4,2 Millionen Einwohnern und seinem Erdölreichtum nicht der schnellen europäischen Entwicklung verschliessen.

Mehr noch: Das Land wird einem EU-Mitgliedland immer näher. Diese Entwicklung wurde sowohl von EU-freundlichen sozialdemokratischen Regierungen als auch von der EU-kritischen bürgerlichen Zentrumsregierung (1997-2000) vorangetrieben - oder wenigstens nicht gebremst.

Durch den EWR hat Norwegen 4000 Gesetze und Vorschriften übernommen. Bisher hat Norwegen sich keiner Vorschrift widersetzt und das Parlament (Stortinget) hat so in erster Linie als "Stempelmaschine" funktioniert. Trotzdem hat sich die politische EWR-Zusammenarbeit für Norwegen schwieriger gestaltet, als dies vorgesehen war. Die vorgesehenen halbjährlichen Treffen mit der EU auf Ministerniveau haben von Seiten der Union keine Priorität. Mit der Machtverschiebung von der Kommission (der eigentlichen EWR-Anlaufstelle) zum Ministerrat wird, hat Norwegen zusätzlichen Einfluss eingebüsst.

Der Vorwurf der norwegischen EU-Gegner, Norwegen sei "EU-höriger" als ein EU-Land bekam diesen Mai eine Art offizielle Bestätigung. Die Osloer Zeitung "Aftenposten" konnte nämlich die Protokolle der Verhandlungen des EWR-Ausschusses veröffentlichen. Diese Protokolle bleiben während eines Jahres der Öffentlichkeit vorenthalten. Aus den Protokollen geht hervor, das Norwegen die Rgeln bezüglich Sozialleistungen auf dem Kontinentalsockel (Erdölwirtchaft) strikter anwendet als die Unions-Länder. Der ehemalige christdemokratische Regierungschef und Oppositionspolitker Kjell Mange Bondevik meinte, Norwegen sei in dieser Sache katholischer als der Papst. Der sozialdemokratische Aussenminister Thorbjörn Jagland ging mit dieser Interpretation einig. "Ich bin einverstanden, aber ich glaube, wir können froh sein, dass es so ist. Dass ist die Art, wie die EFTA-Länder ihre Glaubwürdigkeit im EWR aufrecht erhalten können", sagte Jagland in der Sitzung des EWR-Ausschusses vor einem Jahr.

Einfluss fehlt in vitalen Bereichen

Die Anpassung Norwegens an die EU schreitet weiter voran:

-Seit dem 25. März macht Norwegen bei der Schengenzusammenarbeit mit. "Nicht-EU-Land" Norwegen wird hoch im Norden die EU-Grenze zu Russland bilden.

-Als Natoland steuert Norwegen 3500 Soldaten zur neuen militärischen "Feuerwehr" der EU bei, im Verhältnis zur Bevölkerung drei Mal soviel wie die "richtigen" Unionsländer. Der norwegische Einfluss auf die Einsatzplanung dieser EU-Streitkräfte ist gleichzeitig aber stark begrenzt. Norwegen hofft, in dieser Frage vom Natopartner und Möchtegern-EU-Kandidaten Türkei Schützenhilfe zu bekommen.

-Zurzeit ist die EU daran, den Energie- und Gasmarkt zu liberalisieren. Bereits im Jahr 2005, früher als Norwegen gemeldet, soll im Gasmarkt für Norwegen mittels der sogenannten EU-Gasverordnung die Deregulierung eingeführt werden. Erdgas ist für Norwegen zusammen mit Erdöl das wichtigste Exportprodukt. Bis anhin konnte Norwegen mit den Abnehmern auf dem Kontinent langfristige Abnahmeverträge abschliessen. Dies wird höchstwahrscheinlich durch die neue Energiepolitik der Union nicht mehr möglich sein. Laut Berechnungen muss Norwegen vermutlich jährlich mit rund 7 Milliarden Kronen (rund 1,4 Mia. Franken) weniger Einnahmen aus den Gasverkauf rechnen. Die EU formt ihre Gaspolitik, weitgehend ohne Europas grössten Gasexporteur Norwegen zu Rate zu ziehen.

Der norwegische Erdölminister Olav Akselsen versucht zu entdramatisieren. Wohl könnten die Gasverträge in Zukunft nicht mehr wie früher zwischen dem sogenannten Gasverhandlungsausschuss (dominiert von den zwei grössten norwegischen Erdölgesellschaften Statoil und Hydro) und den Abnehmern ausgehandelt werden. Diese Vorgehensweise wurde von der EU als Kartell betrachtet. "Dennoch werden auch in Zukunft langfristige Lieferverträge mit der EU möglich sein. Bedeutend mehr Skepsis ist bei den Erdölgesellschaften auszuloten. Wer soll die Milliarden-Investitionen für neue Piplines bezahlen, wenn man danach so wenig Sicherheit über Abnahmeverträge und Benutzung hat? Infolge der EU-Verordnung sollen nämlich die Gasleitungen für alle Produzenten zugänglich werden. Hinzu kommt: Norwegens grösste Konkurrenten auf dem Gasmarkt in Europa, Russland und Algerien, sind durch die Gasverordnung der EU nicht betroffen.

-Fisch ist nach dem Erdöl- und Erdgas inzwischen zum wichtigsten Exportprodukt geworden. Mit der Osterweiterung der EU fürchtet Norwegen nun, dass - statt einem vergrösserten Markt - wiederum Zollmauern für den Fisch entstehen könnten. Nicht verwunderlich deshalb, dass Norwegen beim EU-Beitritts-Kandidaten Polen dieser Tage eine richtiggehende Charmeoffensive startet. Polen ist ein wichtiger Abnehmer von norwegischem Fisch und Zoll auf verarbeitetem Fisch, wäre für Norwegen mehr als unglücklich.

Ende des vergangen Jahres hat die sozialdemokratische Arbeiterparteiregierung von Jens Stoltenberg in einer Botschaft ans Parlament eine Analyse unterbreitet, die auch speziell auf die drei letzten wichtigen und problematischen Punkte hinweist.

"Allein das Gas könnte als Argument für den Beitritt zur EU genügen", sagte Aussenminister Thorbjörn Jagland an einer Konferenz nach der Präsentation der Botschaft und fügte bei: "Wären wir in der EU, hätten wir diktiert, jetzt werden uns die Marktbedingungen für den wichtigen Wirtschaftszweig Gas diktiert."

Trotz der Betonung wirtschaftlicher Argumente, umfasst die EU-Botschaft der sozialdemokratischen Regierung auch die politische Argumentation. Grundtenor: Norwegen ist ein international aktiver politischer Akteur (Beispiel Naher Osten) und hätte so viel auch in der EU beizutragen. Durch das Abseitsstehen von der EU würde Norwegen der Eingang zur wichtigsten politischen Bühne Europas verwehrt. Speziell erwähnt wird die Solidarität mit den Ländern des ehemaligen Ostblocks.

Die norwegischen EU-Gegner sind aber der Meinung, Norwegen könne politisch viel zu Europa beitragen, ohne Mitglied der EU zu sein. Eine Untersuchung anfangs 2001 gibt ihnen Recht, jedenfalls was das Gefühlsmässige betrifft. 66 Prozent aller Norwegerinnen und Norweger fühlen eine starke Zugehörigkeit zu "Europa". Bei den EU-Bürgern fühlen laut dieser Untersuchung nur 56 Prozent eine starke Verbundenheit zu "Europa".

Zuwarten

Die EU-Botschaft der Regierung wird vom Versuch geprägt, einerseits möglichst eine neutrale Situationsanalyse zu liefern und anderseits die Debatte sachte anzukurbeln, ohne aber den "Beitrittskrieg" bereits auszulösen. Von Seiten der Regierung hat man nämlich keine Eile, die Diskussion zum EU-Beitritt gleich in Angriff zu nehmen. Zuerst einmal müsse man sehen, wann die Erweiterung der EU komme und wie umfassend diese ausfalle, sagt Aussenminister Jagland. Es müsse zuerst eine "neue Situation" eintreten, argumentiert er weiter. Thorbjörn Jaglands sozialdemokratische Partei hat sich am Parteikongress vom vergangen November genau diesen Handlungsspielraum gegeben lassen: Beitrittsverhandlungen in der nächsten Legislaturperiode (2001 - 2005), sofern die EU-Erweiterung grosse Veränderungen bringen wird. Es ist dabei weniger der Respekt vor der demokratischen Entscheidung der norwegigen Bevölkerung als die Angst vor einem dritten EU-Nein des Volkes (nach 1972 und 1994), das den Sozialdemokraten im Nacken sitzt.

Bei den übrigen Parteien hat sich bei der Haltung gegenüber der Union seit der Volksabstimmung wenig verändert. Bei den traditionell EU-feindlichen bürgerlichen Zentrumsparteien ist von der Christlichen Volkspartei verhalten ein EU-freundlicherer Ton zu hören. Ähnliches gilt für die ebenfalls EU-gegnerischen Linkssozialisten. Die Konservativen bleiben die "Europaturbos", die unberechenbare rechtspopulistische Forschrittspartei scheint dagegen von einem Ja langsam in Richtung Nein zu driften.

Bei den Parlamentswahlen vom kommenden September wird weder der EU-Beitritt noch die Anpassung an die Union ein Thema sein. Die Parteien werden sich die Köpfe einschlagen wegen der haushohen Steuern und Abgaben sowie der Unfähigkeit des Systems, den Bürgern (trotz dem vielen Erdölgeld!) ein funktionierendes Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen. Ob nun wiederum eine sozialdemokratische Regierung oder (was wahrscheinlicher ist) eine konservative Regierung ans Ruder kommt, in Sachen EU wird das neue Parlament in keine Richtung hin legitimiert sein.

Die Haltung des Volkes scheint von "EWR- und Gasdemütigungen" und der rasanten Entwicklung der EU unberührt zu bleiben. Trotz zeitweiligen Tendenzen zu mehr EU-Anhängern sind in allen Umfragen immer wieder die EU-Gegner in der Mehrheit. Den neusten Umfragen zufolge nimmt die Zahl der EU-Anhänger sogar rasant ab und liegt weit unter der 50-Prozent-Grenze.

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