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Mit der Abrissbirne durch Europa

Mit dem im Januar 2004 veröffentlichten Entwurf für eine Dienstleistungsrichtlinie unternimmt die Europäische Kommission den bisher radikalsten und umfassendsten Angriff auf die Sozialsysteme der EU-Staaten. Der Vorschlag stammt aus dem Haus des Binnenmarkt-Kommissars Frits Bolkestein und gilt grundsätzlich für sämtliche Dienstleistungen.

von Thomas Fritz, Attac, AG Welthandel und WTO

Ihren Deregulierungszweck verfolgt die Richtlinie mit einem Mix aus schrittweiser Beseitigung staatlicher Auflagen sowie dem systematischen Unterlaufen nationalen Rechts durch das sogenannte „Herkunftslandprinzip“. Danach unterliegen Dienstleistungsunternehmen in der EU nur noch den Anforderungen ihres Herkunftslands. Auflagen und Kontrollen des Tätigkeitslands würden gänzlich untersagt. Selbst die obligatorische Registrierung einer Geschäftsaufnahme will die Kommission verbieten. Damit setzt das Herkunftslandprinzip eine effektive Wirtschaftsaufsicht in der Europäischen Union faktisch außer Kraft. Künftig könnte sich jedes Unternehmen durch Sitzverlagerung oder die simple Gründung einer Briefkasten-Firma im EU-Ausland lästiger inländischer Auflagen entledigen. Örtliche Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen, Standards beim Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz könnten auf einfache und billige Weise unterlaufen werden. Als Krönung ihres Richtlinienentwurfs stellt die EU-Kommission die Mitgliedstaaten unter Zwangsverwaltung. Diese müssen nicht nur zahlreiche Anforderungen beseitigen, sondern dürfen neue Vorschriften nur noch mit Zustimmung der Eurokraten erlassen. Schon im Entwurfsstadium sind geplante Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Brüssel vorzulegen: Die in der Richtlinie vorgesehenen Verbote erstrecken sich auf sämtliche Verwaltungsebenen und verstoßen damit gegen das im EG-Vertrag verankerte Subsidiaritätsprinzip. Bolkestein vollendet insofern nicht nur den Binnenmarkt, sondern auch den Demokratieabbau. Noch aber ist die Bolkestein-Richtlinie nicht durch. Belgische Gewerkschaften sind Vorreiter des Protests. Sie veröffentlichten kritische Stellungnahmen und gingen auf die Straße. Auch in anderen Ländern wächst die Entrüstung über dieses gigantische Deregulierungsprojekt. Selbst manche RegierungsvertreterInnen bekommen kalte Füße, möchten einzelne Sektoren ausklammern. Die Richtlinie als solche stellen sie jedoch nicht in Frage. Stattdessen beten auch sie die Losung des Lissaboner EU-Gipfels nach: Bis zum Jahr 2010 müsse die Europäische Union „der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt“ werden.

Sämtliche Dienstleistungen erfasst

Der Geltungsbereich der Bolkestein-Richtlinie erstreckt sich auf sämtliche Dienstleistungen, die als „wirtschaftliche Tätigkeiten“ betrachtet werden. Damit verweist sie auf den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes entwickelten funktionalen Unternehmensbegriff. Danach gilt jede Einheit, die wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, als Unternehmen – unabhängig von ihrer Rechtsform, der Art ihrer Finanzierung oder einer Gewinnerzielungsabsicht. Wesentliches Kriterium für wirtschaftliche Tätigkeiten: Sie werden „in der Regel gegen Entgelt erbracht“, wobei das Entgelt nicht notwendig vom Empfänger der Dienstleistung gezahlt werden muss. Dies kann auch der Staat übernehmen, z.B. in Form von Beihilfen.

Leistungen der Daseinsvorsorge und andere hoheitliche Funktionen bleiben aufgrund des Entgeltkriteriums nicht verschont. Denn für die Inanspruchnahme zahlreicher öffentlicher Einrichtungen sind Entgelte oder Gebühren zu entrichten, seien dies der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Verkehrsunternehmen, Bibliotheken, Freibäder, Ver- und Entsorger, Theater, Museen, Kindergärten, Volkshochschulen, Fachhochschulen, Universitäten, Krankenhäuser oder Friedhöfe. Gleiches gilt für die im öffentlichen Auftrag tätigen Institutionen, von den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege bis zum Technischen Überwachungsverein. Mit einiger Sicherheit ausgenommen sind nur jene Leistungen, die gänzlich ohne Entgelt erbracht werden (z.B. kostenlose Angebote von Vereinen, finanziert über Mitgliedsbeiträge oder Spenden).

Durch die kumulative Anwendung mit dem bereits existierenden EU-Recht erweitert die Richtlinie ebenfalls die Herrschaft des Wettbewerbsrechts über öffentliche Aufgaben. Schleichend würden weitere Unionskompetenzen beim Hörfunk, der Krankenversicherung oder sozialen Diensten begründet.

Schließlich berührt das Bolkestein-Papier auch jene Bereiche, wo die Liberalisierung noch in Verhandlung ist oder gar aufgrund von Widerständen scheiterte. Dies gilt beispielsweise für die zähen Verhandlungen über den Öffentlichen Personenverkehr, in denen die Kommission eine Ausschreibungspflicht bei der Auftragsvergabe durchzusetzen versucht. Auch könnte die Liberalisierung der Hafendienste durch Bolkesteins Hintertür wieder auf die Tagesordnung kommen. Dies wäre ein besonderer Affront gegenüber den HafenarbeiterInnen und ihren Gewerkschaften, deren EU-weit konzertierter Widerstand dafür sorgte, dass das sogenannte „Port Package“ im November vergangenen Jahres im Europäischen Parlament durchrasselte. Schließlich geriete auch die besonders umstrittene Wasserversorgung ins Visier. Für sie sieht die Richtlinie lediglich eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip vor, nimmt sie jedoch nicht vom gesamten Anwendungsbereich aus. Folglich wären Wasserwerke ebenso wie andere Versorgungsunternehmen von den zahlreichen Verboten staatlicher Vorschriften bei der Niederlassungsfreiheit betroffen.

Überraschend deutlich kritisiert selbst der deutsche Bundesrat diesen weiten Anwendungsbereich. Er betont, „dass Regelungen der Daseinsvorsorge grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sind. Bestrebungen, die die grundsätzliche Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Daseinsvorsorge infrage stellen, tritt der Bundesrat entgegen“ (Bundesrat 2004: 4).

Debatte über Daseinsvorsorge abserviert

Zum Ärger vieler Beobachter ignoriert die Kommission die von ihr selbst mit einem Grünbuch initiierte, parallel ablaufende und noch längst nicht abgeschlossene Debatte über Leistungen der Daseinsvorsorge in der Europäischen Union. Dabei versicherte sie noch in dem vor Kurzem veröffentlichten „Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“, dass sie „keineswegs einen Schlusspunkt unter die auf europäischer Ebene geführte Debatte setzen“ wolle (Europäische Kommission 2004a: 5). Ein offener Streitpunkt dieser Debatte ist beispielsweise die Forderung nach einem Rahmengesetz für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Eine solche Rahmenregelung, die möglicherweise bestimmte Daseinsvorsorgeleistungen vom EU-Wettbewerbsrecht ausnehmen würde, fordern u.a. Gewerkschaften sowie der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss. In ihrem Weißbuch aber verschiebt die Kommission die Entscheidung über diese zentrale Forderung auf die Zeit nach der Ratifizierung der EU-Verfassung (ebd.: 15). Während die Auseinandersetzung um Dienste von allgemeinem Interesse also noch längst nicht abgeschlossen ist, versucht die Kommission auf dem parallelen Gleis der Bolkestein-Richtlinie Fakten zu schaffen.

Auflagen schleifen – gegenseitige Evaluierung

Artikel 15 der Richtlinie betrifft einen Katalog äußerst sensibler Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten einem rigiden gegenseitigen Überprüfungsprozess unterwerfen müssen und gegebenenfalls zu ändern oder zu beseitigen haben. Zu diesen Maßnahmen gehören u.a.: mengenmäßige oder territoriale Beschränkungen; Anforderungen, die vom Dienstleistungserbringer eine bestimmte Rechtsform verlangen; Anforderungen an eine Mindestkapitalausstattung oder den Besitz besonderer Berufsqualifikationen; die Beachtung festgesetzter Mindest- und/oder Höchstpreise; sowie Verbote im Hinblick auf Verkäufe unter dem Einstandspreis.

All diese Maßnahmen müssen die Mitgliedstaaten in einem Prüfbericht zusammenfassen und nachweisen, dass sie drei Bedingungen erfüllen: Diskrimierungsfreiheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Die Berichte leitet die Kommission an alle übrigen Mitgliedstaaten weiter, die binnen sechs Monaten Stellung beziehen dürfen. Welche gemeinwohlorientierten Auflagen eine solche gegenseitige Evaluierung überleben, darüber kann ebenso spekuliert werden wie über die exorbitanten Kosten dieses Verfahrens. Daneben stellen sich aber noch weitere kritische Fragen: Wer entscheidet, welche Maßnahmen in einem solchen Verfahren gemeldet werden? Was ist mit Maßnahmen, die in die Hoheit der Bundesländer oder Kommunen fallen? Was geschieht, wenn ein Bundesland z.B. Bildungsstandards der gegenseitigen Evaluierung überantworten möchte, ein anderes aber nicht?

Welche Folgen die gegenseitige Evaluierung haben könnte, erschließt sich erst bei Berücksichtigung des spezifischen gesellschaftlichen Zwecks, den die zu prüfenden und gegebenenfalls zu beseitigenden Auflagen erfüllen. Mengenmäßige Beschränkungen betreffen regionale Höchstgrenzen bei der Zulassung von zahlreichen Gewerben – vom Taxiunternehmen bis zur Arztpraxis. Sie können dazu dienen, ein Überangebot in einzelnen Gebieten zu verhindern und damit den am Markt tätigen Dienstleistern überhaupt ein wirtschaftliches Überleben zu sichern. Umgekehrt wirken sie dadurch gegebenenfalls einer Unterversorgung in benachteiligten Gebieten entgegen. Im Gesundheitswesen trägt die gesteuerte Zulassung medizinischer Dienstleister, deren Behandlungskosten von den Sozialkassen erstattet werden, zur Kontrolle der Kostenentwicklung bei. Die Umstellung von derartigen mengenmäßigen und territorialen Steuerungsmechanismen auf reine Marktsteuerung zieht unabsehbare gesellschaftliche Folgekosten nach sich. Allein ein forcierter Verdrängungswettbewerb mit zunehmenden Unternehmensinsolvenzen würde die öffentlichen Kassen mit den dann fällig werdenden Sozialtransfers belasten.

Die Kommission heißt jedoch auch die exzessivsten Formen des Wettbewerbs willkommen. Dies unterstreicht sie mit der Absicht, festgesetzte Mindestpreise und Verkäufe unter dem Einstandspreis schleifen zu wollen (Art. 15 Abs. 2g). Dadurch geraten nicht nur Honorarordnungen unter Druck, sondern auch wettbewerbsrechtliche Verbote von Dumpingpreisen. Letzteres würde dem Verdrängungswettbewerb durch transnationale Konzerne Tür und Tor öffnen. Künftig könnten sie mit zeitlich befristeten Dumpingangeboten, finanziert durch konzerninterne Quersubventionen, aggressiv neue Märkte erobern. Kehrseite derart radikalisierter Preiskämpfe ist ein steigender Druck auf Arbeitsbedingungen, Löhne und Produktqualität.

Gemeinnützige Betriebe unter Beschuss

Die Absicht der Bolkestein-Behörde, gesellschaftliche Anforderungen an die Wahl der Rechtsform in die Unionskompetenz zu überführen, unterminiert jegliche Form von Unternehmenskontrolle. Artikel 15 Absatz 2 nimmt Anforderungen ins Visier, „die vom Dienstleistungserbringer eine bestimmte Rechtsform verlangen“, so z.B. das Erfordernis eine juristische Person, eine Personengesellschaft oder eine Gesellschaft ohne Erwerbszweck zu sein. In diesem Passus schlägt sich sowohl die forcierte Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen als auch die Privatisierung öffentlicher Aufgaben nieder. Mit einem Verzicht auf die Anforderung, bestimmte wirtschaftliche Tätigkeiten nur durch „juristische Personen“ ausüben zu lassen, d.h. ein reguliertes Unternehmen gründen zu müssen, reagiert die Richtlinie auf den Trend, Beschäftigte und Erwerbslose in kaum überlebensfähige Mini-Selbständigkeiten zu drängen. Die mit den „Ich-AGs“ der Hartz-Gesetze betriebene Legalisierung prekärer „Scheinselbständigkeiten“ findet mit der Bolkestein-Richtlinie ihre binnenmarktliche Fortsetzung.

Mit der Einbeziehung von Gesellschaften „ohne Erwerbszweck“ kommen daneben alle Maßnahmen auf den Prüfstand, die bestimmte öffentliche Aufgaben ausschließlich oder bevorzugt gemeinnützigen, nicht gewinnorientierten Unternehmen vorbehalten. Damit zielt die Richtlinie einerseits auf jegliche Form öffentlicher Bereitstellung von Daseinsvorsorgeleistungen ab, andererseits auf den gesamten Non-Profit-Sektor. Die Barrieren für private Geschäftsinteressen in vormals marktfernen Bereichen sollen fallen. Dies beträfe beispielsweise die Gemeinnützigkeitsprivilegien freier Träger sozialer Dienste in der Bundesrepublik. Obwohl die deutsche Sozialgesetzgebung der letzten Jahre die traditionelle Vorrangstellung der Träger der Freien Wohlfahrtspflege bereits aufweichte, bleiben sie dennoch durch den steuerrechtlichen Status der „Gemeinnützigkeit“ privilegiert: Sie können exklusiv Subventionen erhalten, sind u.a. von Ertragssteuern befreit und Spenden sind abzugsfähig (vgl. Boetticher/Münder 2003). Die Privilegien gemeinnütziger Unternehmen diskriminieren aber kommerzielle Anbieter, die künftige Klagen auf Gleichbehandlung gegebenenfalls auf die Bolkestein-Richtlinie stützen könnten.

Eine Beseitigung von Vorschriften über zulässige Rechtsformen beschränkt nicht zuletzt die Möglichkeiten, diejenigen Organisationsformen für öffentliche Aufgaben zu wählen, die den notwendigen Grad an demokratischer Kontrolle sichern. Damit verengt sich zugleich der Spielraum für die Beeinflussung von Investitionsenscheidungen, Besteuerung und Haftung. Da Art. 15 Abs. 2c zudem Mindestanforderungen an die Kapitalausstattung unter Beschuss nimmt, ist zu befürchten, dass die Gewährleistungspflichten für öffentliche Aufgaben in Gefahr geraten. Denn Anbieter mit dünner Kapitaldecke zulassen zu müssen, unterminiert zweifellos die erforderliche Kontinuität der Dienstleistungserbringung. In der Bundesrepublik gehört es aber zur grundgesetzlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG), dass „sich die Gemeinden im absolut geschützten Kernbereich der Selbstverwaltung nicht ihrer Aufgaben durch materielle Privatisierung entledigen dürfen. Genauso wenig dürfen sie sich durch umfangreiche Organisationsprivatisierungen ihres eigenen politischen Einflusses auf die Aufgabenerfüllung entäußern“ (Kempen 2002: 56). Die Organisationsform muss also die Aufgabenerfüllung und den kommunalen Einfluss sicherstellen – zweifellos ein Konflikt mit der Zielstellung des Bolkestein-Vorschlags.

Regulierung unter Vormundschaft

Eine Beschränkung bei der Rechtsformwahl wäre zudem perspektivisch problematisch. Sie würde den in verschiedenen Ländern beginnenden Prozess der Rückabwicklung gescheiterter Privatisierungen sowie der Entwicklung neuer kooperativ-gemeinnütziger Unternehmensformen erheblich behindern. So entsteht in Großbritannien derzeit eine Gegenbewegung zur bisher dominanten Privatisierung öffentlicher Aufgaben. In mehreren Kommunen übernahmen lokale soziale Unternehmen öffentliche Infrastrukturen, von der Gesundheitsversorgung bis zum Personenverkehr. Parallel dazu entwickelt das dortige Wirtschaftsministerium die neue Rechtsform der Community Interest Companies. Wenn die negativen Privatisierungserfahrungen auch in der Bundesrepublik zunehmen und sich die anfänglichen finanziellen Entlastungen langfristig ins Gegenteil verkehren, dürfte auch hierzulande intensiver mit derartigen Formen experimentiert werden. Dann aber möglicherweise vor dem Hintergrund eines noch restriktiveren europarechtlichen Rahmens.

Derartige Re-Regulierungen kämen nicht zuletzt durch das in der Richtlinie vorgesehene faktische Moratorium zum Erliegen. Nach Artikel 15 Absatz 5 dürfen neue Vorschriften nur dann eingeführt werden, wenn sie diskriminierungsfrei, erforderlich, verhältnismäßig und „durch geänderte Umstände begründet sind“. Ferner sind neue Rechts- und Verwaltungsvorschriften „im Entwurfsstadium“ der Kommission mitzuteilen, die sie wiederum an die übrigen Mitgliedstaaten weiterleitet (Art. 15 Abs. 6). „Binnen drei Monaten nach der Mitteilung prüft die Kommission die Vereinbarkeit dieser neuen Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht und entscheidet gegebenenfalls, den betroffenen Mitgliedstaat aufzufordern, diese nicht zu erlassen oder zu beseitigen“ (ebd.). Damit muss jede neue Rechtsvorschrift, egal auf welcher Verwaltungsebene sie entwickelt wurde, eine riesige Hürde nehmen, um den Segen der EU-Konformität zu erhalten. Der europäische Dachverband der Sozialversicherungen AIM bringt den Effekt dieser Regelungen für das Gesundheitswesen treffend auf den Punkt: „Das Moratorium des Artikels 15.5 und die vorherige Notifizierung bei der Kommission nach Artikel 15.6 würde de facto die nationalen Gesundheitssysteme unter Vormundschaft stellen“ (AIM 2004: 3). Diese Vormundschaft gilt im Prinzip für sämtliche Dienstleistungen, die in den Anwendungsbereich der Bolkestein-Richtlinie fallen.

Herkunftslandprinzip – Chaos der Rechtssysteme

Mit dem Herkunftslandprinzip kommt eine neue Qualität der Deregulierung ins Spiel. Nach Artikel 16 Absatz 1 haben die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, „dass Dienstleistungserbringer lediglich den Bestimmungen ihres Herkunftsmitgliedstaates unterfallen“. Eine Kontrolle durch Behörden des Ziellands soll folglich gänzlich entfallen. Diese Aufgabe käme allein dem Herkunftsland zu: „Der Herkunftsmitgliedstaat ist dafür verantwortlich, den Dienstleistungserbringer und die von ihm erbrachten Dienstleistungen zu kontrollieren, auch wenn er diese in einem anderen Mitgliedstaat erbringt“ (Art. 16 Abs. 2). Nur, welches Interesse sollte ein Herkunftsland haben, die Auslandsgeschäfte der bei ihm beheimateten Unternehmen zu kontrollieren? Warum sollte es ihnen Geschäftsmöglichkeiten verbauen, die sich positiv in seiner Außenwirtschaftsbilanz niederschlagen? Verfügen die Behörden überhaupt über die finanziellen und personellen Ressourcen, um derartige Zusatzaufgaben zu übernehmen? Und nicht zuletzt: Wie kann es zu einer effektiven Wirtschaftsaufsicht kommen, wenn das Herkunftsland keinerlei Befugnisse hat, vor Ort im Zielland Kontrollen durchzuführen? Auf die naheliegendsten Einwände gegen das Herkunftslandprinzip liefert die Dienstleistungsrichtlinie keinerlei Antworten. Stattdessen begnügt sie sich mit blumigen Maßnahmen gegenseitiger Unterstützung und der Verwaltungszusammenarbeit (Art. 35-37).

Gegenüber den Ziel- bzw. Tätigkeitsländern spricht Bolkestein mehrere Verbote aus. Sie dürfen von Dienstleistern nicht verlangen, „die auf ihrem Hoheitsgebiet für die Erbringung einer Dienstleistung geltenden Anforderungen zu erfüllen“ (Art. 16 Abs. 3e). Mit diesen Anforderungen sind sämtliche Regelungen gemeint, die „das Verhalten der Dienstleistungserbringer, die Qualität oder den Inhalt der Dienstleistung, die Werbung, die Verträge und die Haftung der Dienstleistungserbringer“ betreffen (Art. 16 Abs. 1). Die Standards des Tätigkeitslands bestünden folglich nur noch für inländische Unternehmen, nicht mehr für all jene, die ihren Sitz in anderen EU-Staaten haben oder dorthin verlagern, um strengere inländische Auflagen zu umgehen. Wie der deutsche Bundesrat zutreffend feststellt, wäre die Folge, „dass im jeweiligen Mitgliedstaat kein einheitliches Recht gelten würde“ (Bundesrat 2004: 19). Das Recht wäre von Person zu Person bzw. von Betrieb zu Betrieb je nach Herkunft des Dienstleisters verschieden. Damit treten die nationalen Rechtssysteme innerhalb eines jeden Mitgliedstaats direkt miteinander in Konkurrenz. In der Konsequenz werden inländische Betriebe, die sich strengeren Auflagen ausgesetzt sehen, die rechtliche Gleichstellung mit der ausländischen Konkurrenz einklagen. Auf diese Weise stimuliert das Herkunftslandprinzip einen unerbittlichen Abwärtswettlauf bei Standards und Normen.

Während die Kommission einerseits die Erosion verbindlicher Qualitätsstandards befördert, propagiert sie andererseits freiwillige Verfahren. Sie will die Anbieter dazu ermutigen, „freiwillig die Qualität der Dienstleistungen zu sichern“ (Art. 31). Im Angebot hat sie Zertifizierungen, Gütesiegel, Selbstverpflichtungen sowie freiwillige Standards und Verhaltenskodizes auf Gemeinschaftsebene (Art. 31 und Art. 39). Bolkestein setzt mithin alles daran, verpflichtende Qualitätskriterien außer Kraft zu setzen und die Entwicklung von Standards ins Belieben der Unternehmen zu stellen.

Die Richtlinie stoppen!

Die Bolkestein-Richtlinie setzt einen rücksichtslosen Abwärtswettlauf bei Sozialstandards und Qualitätsnormen in Gang. Vorschriften, die sich nicht durch gegenseitige Evaluierung schleifen lassen, würden durch Briefkasten-Firmen unterlaufen. Die jeweils niedrigsten Standards verwandelten sich zur EU-weiten Norm. Sie gäben das Niveau vor, auf das die Sozialsysteme zu trimmen sind. Aufgrund des weiten Geltungsbereichs bliebe kaum ein Sektor verschont, seien es die freien Berufe, öffentliche Dienste, freie Träger oder kommerzielle Anbieter. Der Verdrängungswettbewerb hielte fast überall Einzug. Die öffentlichen Aufgaben gerieten unter verschärften Privatisierungsdruck. Weitere Bereiche der Daseinsvorsorge würden dem Wettbewerb unterworfen. Mit den Sozialversicherungen gerieten zentrale gesellschaftliche Umverteilungsmechanismen unter Beschuss.

Noch aber ist es möglich, dieses radikale Vorhaben zu stoppen. Nach den Plänen der Kommission sollen das Europäische Parlament und der Rat im kommenden Jahr zustimmen. Die stufenweise Umsetzung würde dann im Jahr 2005 beginnen und bis 2010 den Gipfelpunkt der Liberalisierung erreichen. Wichtigste Maßnahme, um diese Pläne zu durchkreuzen, ist die Herstellung von Transparenz. Die Verhandlungen müssen den Sitzungsräumen der Lobbyisten und Bürokraten entrissen und ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Betroffene aller Branchen, Beschäftigte und VerbraucherInnen müssen die Chance bekommen, Einspruch zu erheben. Allein die Masse der potenziell Geschädigten könnte die Verhandlungen zu Fall bringen. Der Bolkestein-Richtlinie ist das gleiche Schicksal zu wünschen wie dem 1998 gescheiterten Investitionsabkommen MAI.

Thomas Fritz, BLUE 21 / Attac, AG Welthandel und WTO, Juli 2004

Auszüge aus dem BLUE 21-Arbeitspapier „Auf dem Weg zur Sonderwirtschaftszone: Die Dienstleistungsrichtlinie der EU“ (www.blue21.de)


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