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Kleine Länder und die Entscheidungsprozesse der EU - ein paar dänische Beispiele

Der Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der EU ist ein weites Thema. Man kann auf das Gewicht der einzelnen Länder in den Ministerräten schauen oder ihren Einfluss in den vielen Ausschüssen, die Verordnungen und Richtlinien vorbereiten, untersuchen. In diesem Artikel will ich jedoch nur ein paar EU-Entscheidungen auf Gebieten unter die Lupe nehmen, die den dänischen Wählern und Politikern traditionell sehr am Herzen lagen: Umwelt, Solidarität mit der dritten Welt und das nordische Wohlfahrtssystem.

Von Jesper Morville, Internationaler Ausschuss der Volksbewegung gegen die EU, Dänemark, und Koordinator von TEAM, The European Alliance of EU-critical Movements

Die Entwicklung der EU-Debatte in Dänemark

1972 war die Erklärung im Römer Vertrag, dass das Ziel der EWG “eine immer engere Union der Völker Europas" sei, ein wichtiges Argument der Gegner eines EWG-Beitritts. Die politischen Ambitionen, die in der Formulierung impliziert sind, konnte EWG-Gegner aller politischen Lager mobilisieren. Die Idee einer grossen, supranationalen Union gefährdete in den Augen der Gegner die recht gut funktionierende partizipative Demokratie, die in den nordischen Staaten einen hohen Stellenwert hat.

Die grosse Mehrheit des dänischen Parlaments und der führenden politischen Parteien, die den EWG-Beitritt befürworteten, schaffte es jedoch, die politischen Implikationen des EWG-Beitritts während den hitzigen Debatten vor dem Referendum von 1972 völlig zu verschweigen. Sie überzeugten eine Mehrheit von Abstimmenden, dass der EWG-Beitritt eine rein wirtschaftliche Angelegenheit sei: es wurde der Eindruck vermittelt, es gehe nur um den Export von dänischem Speck.

Als 1986 die Dänen wieder an die Urne gerufen wurden, um über die Europäische Einheitsakte abzustimmen, erklärte der dänische Premierminister Schlytter, im Falle eines Ja's wäre "jegliche Idee einer Europäischen Union völlig tot". Er argumentierte, dass ein effizienter Binnenmarkt eine weitere politische Integration überflüssig mache. Sechs Jahre später hatten die Dänen jedoch schon wieder abzustimmen - diesmal über den Maastrichter Vertrag, der die "Europäische Union" offiziell einsetzte. Nun wechselten die Befürworte die Taktik: statt die EU als rein wirtschaftliches Unternehmen hinzustellen wurde nun argumentiert, man müsse in der EU sein, um deren Entwicklung zu beeinflussen. Die Konservative Partei benutzte die nordische Flagge auf ihrem Werbematerial, um den Abstimmenden zu suggerieren, dass die anderen nordischen Staaten ebenfalls der EU betreten werden und damit die Stärkung der nordischen Werte in der Union sichern würden.

Die "nordischen Werte"

Es gibt natürlich Unterschiede zwischen den politischen Parteien, wenn es darum geht, diese Werte zu definieren. Die meisten politischen Parteien würden jedoch zustimmen, dass die nordische Zusammenarbeit in der UNO wichtig war und dass sie einen Einfluss der skandinavischen Länder sicherte, der bei weitem ihre bevölkerungsmässige und politische Macht überstieg. Dieser Einfluss konnte mehrmals eingesetzt werden, um erfolgreich als Vermittler zwischen den reichen und den armen Ländern aufzutreten.

Eine weitere typische Eigenschaft der nordischen Staaten war der steuerfinanzierte Wohlfahrtsstaat. Die Rechte und die Linke waren über die exakten Grenzen zwischen privater und öffentlicher Verantwortung natürlich nicht einig. Im Grossen und Ganzen herrschte jedoch ein Konsens bezüglich des Sozialstaates. Dies gilt auch für die Art und Weise, wie man den Arbeitsmarkt regelte: die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften erreichten ihre Übereinkommen durch Verhandlungen, ohne Einflussnahme des Staates.

Drei Beispiele

Anlässlich der Kampagnen zu den EG-EU-Verträgen versprachen die dänischen Politiker jeweils immer, sich in der EG-EU vehement für die soziale Frage, die Umwelt und die Solidarität mit der dritten Welt einzusetzen. Aber:

1: Als 1994 der Basler Vertrag , ein UNO-Vertrag über die Regulierung des Exports von giftigen Abfällen in Drittweltländer neu verhandelt wurde, präsentierten die fünf nordischen Länder einen gemeinsamen Vorschlag, solche Ausfuhren völlig zu verbieten. Die EU gab den drei EU-Mitgliedern Schweden, Finnland und Dänemark 24 Stunden, um ihre Unterstützung dieses Vorschlags zurückzuziehen. Die EU hätte einheitlich zu handeln und die grossen EU-Länder hätten sich auf einen viel weniger weit gehenden Vorschlag geeinigt. Dänemark, Schweden und Finnland wurden gezwungen, den EU-Vorschlag zu unterstützen. (Glücklicherweise verteidigte Norwegen weiterhin den ursprünglichen nordischen Vorschlag und erreichte durch eine geschickte Diplomatie eine Mehrheit für diesen Vorschlag). Als EU-Mitglied mussten die dänischen Werte den Interessen der grösseren EU-Länder weichen.

2: Im März 06 entschied der EU-Umweltausschuss, Nitrite und Nitrate in "ökologischen Lebensmitteln" zuzulassen. In Dänemark ist die Verwendung solcher Zusatzstoffe in als "ökologisch" etikettierten Lebensmitteln nicht erlaubt. Umsonst versuchte der dänische Minister seine Zähne zu zeigen: er konnte keine Mehrheit gegen den Vorschlag mobilisieren.

3: Im Februar 06 einigte sich das EU-Parlament auf einen Kompromiss bezüglich der Dienstleistungsrichtlinie. Diese Richtlinie war einer der Hauptfaktoren für das Nein in Frankreich und Holland zur EU-Verfassung, und die wichtigeren EU-Institutionen hatten das Gefühl, man müsste ein paar Konzessionen an die öffentliche Meinung machen. Der ursprüngliche Entwurf schloss das “Ursprungslandprinzip" ein, was bedeutet, dass die Anbieter von Dienstleistungen, die in anderen EU-Ländern arbeiten, nur die Gesetze ihres Wohnsitzes beachten müssen, nicht jedoch die Gesetze des Landes, in dem sie arbeiten. Dies implizierte die Möglichkeit von Sozialdumping und bedrohte endgültig das nordische Modell mit seinen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Der EU-Kommissar für den Binnenmarkt McCreevy meinte ohne Umschweife: “Der skandinavische Typ von Verträgen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern steht im Konflikt mit den EU-Gesetzen über die Personenfreizügigkeit." Durch die Reaktionen auf die Richtlinie beunruhigt gaben der dänische und der schwedische Premierminister an, dass sie gegen das Ursprungslandprinzip stimmen werden. Und tatsächlich wurde im Kompromiss, der vom EU-Parlament vorgeschlagen wurde, die unmittelbare Erwähnung des Ursprungslandprinzips gestrichen. Als aber die schwedische EU-Parlamenterierin Eva Britt Svensson fragte, ob dies das Ende des Ursprungslandprinzips bedeute, erwiderte die EU-Kommission, Uneinigkeit über die Interpretation der Richtlinie werde letzten Endes durch den EU-Gerichtshof entschieden. Und der EU-Gerichtshof hat bisher immer für mehr EU-Integration entschieden, und gegen die spezifischen Traditionen und Interessen einzelnen Mitgliedländer.

Dies zeigt zwei, drei interessante Aspekte der EU-Entscheidungsprozesse: die EU-Kommission hat bisher wenig direkte Macht über die sozialen Angelegenheiten der Länder, die als nationale Kompetenz betrachtet wurden. Sobald aber ein sozialer Konflikt als Attacke auf das Prinzip der Personenfreizügigkeit ausgelegt werden kann, dann kann die EU-Kommission sofort handeln. Und wenn ein Mitgliedland nicht einverstanden ist, so liegt die Interpretationsmacht beim EU-Gerichtshof. Weder Gewerkschaften noch Regierungen können den EU-Gerichtshof stoppen, der immer eine aktivistische Rolle in der Interpretationen "der immer engeren Union der Völker" der EU einnahm.

Es gibt natürlich auch Beispiele, wo sich die dänische Sicht wenigstens bezüglich Regelungen in Dänemark durchsetzen konnte. So konnten gewisse chemische Produkte in Dänemark verboten werden, was durchaus wichtig ist. Diese Siege sind jedoch immer durch den EU-Gerichtshof bedroht, der dem freien Güterverkehr den Vorrang vor Umweltschutzgesichtspunkten geben kann.

Was können kleine Länder ausserhalb der EU tun

Dies zeigt, wie klein der Einfluss kleiner Länder wie Dänemark in der EU ist - selbst in Bezug auf Entscheidungen, welche die vitalen Interessen des Landes betreffen. Die Tendenz ist klar: von EU-Vertrag zu EU-Vertrag wird in den Ministerräten das Gewicht von den kleinen zu den grossen Staaten verschoben. Es wird für die kleinen Länder immer schwieriger, Koalitionen zu bilden und eine Sperrminorität gegen Vorschläge zu bilden, die von den grossen Ländern unterstützt werden. Der Nizza-Vertrag und die vorgeschlagene EU-Verfassung zeigen deutlich, wie besorgt die grossen EU-Länder sind, durch die EU-Erweiterung ihre Vormacht in der EU zu verlieren. Diese Angst mindert natürlich den Einfluss der kleinen Länder.

Das obige Beispiel Norwegens zeigt, dass durch geschickte Diplomatie und durch Allianzen mit anderen kleinen und mittleren Länder wie der Schweiz, Kanada, Neuseeland und Drittweltländern ein kleines unabhängiges Land auf der internationalen Ebene durchaus Erfolge haben kann. Als Mitglied der Union, die in internationalen Angelegenheiten mit einer Stimme sprechen will und die eigenen Interessen verteidigen will, die durch die alten und grossen Mitgliedländer definiert werden, gibt es diesbezüglich keine Freiheit mehr.

Dauerhafte Folgen für die Demokratie

Eine weitere, auf weite Sicht wichtige Folge der EU-Mitgliedschaft besteht in einer Entmutigung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs): NGO's spielten traditionell eine wichtige Rolle in der dänischen Gesellschaft. Sie setzten sich mit allen ihren Kräften ein, Entscheidungen auf ökologischem, sozialem und entwicklungspolitischem Gebiet positiv zu beeinflussen. Sie werden jedoch apathisch, sobald ihre Vorschläge Mal für Mal mit dem Argument abgeschmettert werden, dass die entsprechenden Fragen auf EU-Ebene zu entscheiden wären. Es gibt zwar glücklicherweise ein paar internationale NGOs, die gross genug sind, um etwas Lobbying in Brüssel zu betreiben. Die vielen kleineren NGOs, die für die Demokratie von wesentlicher Bedeutung sind, müssen jegliche Idee einer Teilnahme an Entscheidungsprozessen aufgeben. Dies ist eine ernsthafte Bedrohung einer lebendigen Demokratie.


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