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"...aus freien Stücken und immerwährend..."



In Österreich gerät die Neutralität zunehmend unter Druck. Von Gewerschaften, Sozialdemokraten und Grünen wird sie zwar im Augenblick noch offiziell verteidigt. Die Unterstützung des Amsterdamervertrags lässt diese Haltung jedoch wiedersprüchlich erscheinen, da dieser die Integration der Westeurpäischen Union (WEU), des westeuropäischen Arms der NATO, in die EU festschrieb.

Von Thomas Roithner, Friedenswerkstatt Linz, Mitarbeiter der Österreichischen Neutralitätsbewegung.

Wurzeln der österreichischen Neutralität

Die Neutralität gehört neben dem Staatsvertrag und der antifaschistischen Gesinnung zu den Grundfesten der Zweiten Republik. Der Weg dazu war lang und beschwerlich. Die mehrjährige Verhandlungen - vor allem mit der Sowjetunion - zeigten am 15. Mai 1955 mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags die langersehnten Früchte. Die Gewährung der Freiheit und Unabhängigkeit ging auf den Vorschlag Österreichs zurück, daß "Österreich keine Absicht (hat), in irgendeinem militärischen Pakt mit irgendeiner Nation einzutreten." (Figl Februar 1954) Am 26.10.1955 wurde das Bundesverfassungsgesetz (BVG) über die immerwährende Neutralität - "aus freien Stücken und immerwährend" - beschlossen. "Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen." - so das Neutralitätsgesetz.

"Aktive Friedens- und Neutralitätspolitik"

Die österreichische aktive Neutralitätspolitik ist eng mit dem Sozialisten Dr. Bruno Kreisky verbunden. Er konnte das Konzept der Neutralität in seiner Zeit als Außenminister und Bundeskanzler wesentlich gestalten, indem Österreich im Dialog zwischen Ost und West eine wesentliche Rolle spielte. Aktiv beteiligte sich Österreich in dieser Zeit auch an der Organisation von Konferenzen, die sich mit den Beziehungen der Staaten der "Dritten Welt" und dem Norden auseinandersetzten. Besonders herausragend sind die Verdienste Kreiskys im Zusammenhang mit den Verhandlungen um Palästina. Kreiskys Neutralitätspolitik begann sich bald vom Muster der Schweiz aber auch Schwedens zu unterscheiden. Die Lehren der Geschichte und das Instrumentarium der Neutralität nützten die Sozialisten, um "Wien in steigendem Maße zu einem Begegnungsplatz der Weltpolitik" (Kreisky) werden zu lassen. Die Niederlassung der Vereinten Nationen (VN) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind Ausdruck dieser Bemühungen. Schon damals wehrte sich Kreisky gegen die Anschuldigungen, daß die Neutralität ein Heraushalten aus Konflikten und unsolidarisches Verhalten sei.

Europäische Integration und Diskussionen in Österreich

Im Rahmen der fortschreitenden Integration EUropas ist in Österreich unter konservativer Flagge die Neutralität in Diskussion geraten. Im Juni 1994 unterbreitete die Regierung den Österreicherinnen und Österreichern die Frage der EU-Mitgliedschaft in Form einer Volksabstimmung. Daß die immerwährende Neutralität im Falle eines Beitritts unangetastet bleibt, war eines der fragwürdigen Versprechen der Regierung. Die 66 %ige Zustimmung Österreichs zur EU bedeutete nämlich ein Ja zum Vertrag von Maastricht, der die Westeuropäische Union (WEU), dem westeuropäischen Pfeiler der NATO, als integralen Bestandteil der Entwicklung der EU festschrieb. Heute ist Österreich auch im Rahmen der NATO-"Partnerschaft für den Frieden" (NATO-PfP) und im Euroatlantischen Partnerschaftsrat (EAPC) vertreten. Die PfP stellt einen Schritt zur NATO-Integration dar. Weiters ist Österreich als Beobachter in der WEU. Der Amsterdamer-Vertrag präzisierte die Integration der WEU in die EU. Durch die Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages im österreichischen Parlament mit den Stimmen der SPÖ, ÖVP und Liberalem Forum wurde die Neutralität de facto über Bord geworfen.

Die WEU dient dazu, die ökonomischen und imperialistischen Interessen der EU militärisch durchzusetzen. Beispielsweise schreibt die deutsche Bundeswehr in ihren Verteidigungspolitischen Richtlinien die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt ..." fest. Die NATO und die WEU sind wechselseitig kommunizierende Militärpakte, die sich gegenseitig so verstrickt und eingebunden haben, daß ein Auseinanderdividieren kaum mehr möglich ist. Trotz der Zusammenhänge von EU, WEU und NATO scheint in der breiten öffentlichen Diskussion die EU kein Hindernis für die Neutralität darzustellen. Als den Gipfel der Absurdität in der Sicherheitsdebatte sei auf die Aussagen Schüssels hingewiesen, daß die NATO mit der Neutralität vereinbar sei.

Positionierungen der politischen Kräfte zu Neutralität und NATO

Große Teile der Sozialdemokratischen Partei (SPÖ) sprechen sich für die Beibehaltung der österreichischen Neutralität aus. Im August 1998 sprachen sich nach Umfragen lediglich 16 % der SPÖ-Mitglieder für den NATO-Beitritt aus. Die Partei arbeitet speziell im Rahmen der österreichischen Präsidentschaft in der EU unermüdlich an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) mit. Daß die WEU (die sich als Europäischer Pfeiler der NATO definiert und über eine härtere Beistandsverpflichtung verfügt als die NATO selbst) im Rahmen dieser Politik in die EU integriert wird, und somit im Widerspruch zur Neutralität steht, kehren die Sozialdemokraten verschwiegen unter den Teppich. Die Östereichische Volkspartei (ÖVP) tritt für einen NATO-Beitritt ein. Der Plan der Bundesregierung (SPÖ und ÖVP), einen gemeinsamen Bericht über die sicherheitspolitischen Optionen noch vor Beginn der EU-Ratspräsidentschaft abzugeben, ist im Mai 1998 gescheitert. Die SPÖ weigerte sich beharrlich, die Option eines NATO-Beitritts in den Bericht aufzunehmen. Die ÖVP präsentierte dann "staatstragend" ihren eigenen Optionenbericht, in dem die NATO hoch gepriesen wurde.

Die FPÖ unter Jörg Haider tritt für den NATO-Beitritt ein, spricht sich derzeit aber aus wahltaktischen Gründen für ein Referendum vor einem eventuellen Beitritt aus. Das Liberale Forum spricht sich für einen Vollbeitritt Österreichs zur WEU aus. Offiziell stehen die Grünen nach wie vor zu Ihrer Ablehnung von NATO und WEU. Von einer umfassenden Kritik an der Militarisierung der EU wird - anders als vor der Volksabstimmung 1994 - jedoch vermehrt Abstand genommen. Die Osterweiterung der EU ist für die Grünen zum vorrangigen Friedensprojekt mutiert.

Der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) hat die Erhaltung der österreichischen Neutralität in seinen Grundsätzen verankert, setzt diese Grundsätze aber je nach politischem Bedarf ein.

Außerparlamentarische Gruppen für Neutralität

In der "Österreichischen Neutralitätsbewegung" sind über 100 Gruppen aus den Bereichen Frieden, Entwicklung, Jugend- und Kulturarbeit, politische Parteien, kirchlichen Gruppen, SchülerInnen- und StudentInnenorganisationen repräsentiert. Zugespitzt haben sich die Aktivitäten der Bewegung in Demonstrationen und Versammlungen, auf denen österreichweit Tausende Menschen aktiv teilnahmen. Die aktivsten Zentren finden sich derzeit in Wien, Innsbruck, Salzburg und Linz.

In einer Schrift der Österreichischen Neutralitätsbewegung steht zu lesen: "Angesichts weltweit wachsender Konflikt- und Krisenherde ist das Konzept einer aktiven Friedens- und Neutralitätspolitik so atemberaubend modern und zukunftsweisend, daß die Neutralität erfunden werden müßte, wenn es sie nicht gäbe." Wer, wenn nicht die neutralen Staaten in Europa könnten sich heute für präventiven Dialog, Mediation, Konfliktfrüherkennung, Vorbeugungsmaßnahmen, echte Kriegs- und Krisenvorwarnsysteme, freiwillige Friedensdienste und Friedensforschung als langfristige Investitionen in den Frieden außerhalb des militärischen Muskelspiels engagieren? Eine ernstgemeinte Friedenspolitik kann nur durch internationale und weltoffene Zusammenarbeit geschehen. Organisationen wie der Österreichische Friedensdienst (ÖFD) exerzieren an praktischen Beispielen vor, wie "gelebte" aktive Friedens- und Neutralitätspolitik aussehen kann.

Neben den in der Österreichischen Neutralitätsbewegung engagierten Gruppen arbeiten noch die katholische Initiative "Plattform Neutralität", das Personenkomitee Volksbefragung, die Überparteiliche Plattform "Sicherheit durch Neutralität", die Österreichische Bewegung gegen den Krieg, die Mütter für Neutralität und andere Gruppen am Erhalt bzw. der Weiterentwicklung der Neutralität. In wissenschaftlicher Hinsicht meldet sich das Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung in Stadtschlaining (ÖSFK) und das Österreichische Institut für Internationale Politik (ÖIIP) in Laxenburg immer wieder zu Wort.

Brüche der Neutralität Der österreichische Völkerrechtler Dr. Michael Geistlinger analysierte in seiner Studie 1996 die Brüche der Neutralität der letzten Jahren: Der Beitritt zur EU (selbst die Europäische Kommission meldete vor unserem Beitritt Bedenken an), die Überflugs- und Durchfuhrgenehmigungen im Irak-Krieg, die Verletzung der Abstinenzpflichten durch die Anerkennungspolitik in Jugoslawien, der Beobachterstatus im Militärpakt WEU und in diesem Zusammenhang die Pflichten aus der Petersberger Erklärung, die Zusammenarbeit mit der NATO in der "Partnerschaft für den Frieden" (PfP) und im Euroatlantischen Partnerschaftsrat (EAPC), das Truppenstatut und vieles mehr.

Atomsperrgesetz Österreich hatte sich in der Volksabstimmung um das Atomkraftwerk Zwentendorf gegen die nichtmilitärische Verwendung von Atomenergie ausgesprochen. Heute geht die ÖVP soweit, der NATO die Durchfuhr von Atomwaffen nach Ungarn zu erlauben. Die Konservativen nützen die Gunst der Stunde, sich gegenüber der NATO als "eiserne und kalte Krieger" zu präsentieren. Die derzeit einzig denkbare Möglichkeit, Atomwaffen auf dem Landweg nach Ungarn zu bringen, ist die Durchquerung des österreichischen Staatsgebietes. Wieder einmal rüttelt die ÖVP an grundsätzlichen Werthaltungen und Einstellungen der österreichischen Bevölkerung. Ein Urteil des Internationalen Gerichtshofes (IGH), der selbst die Drohung mit Atomwaffen als illegal und völkerrechtswidrig erklärt hat, wird von den Konservativen in den Wind geschrieben. Auch die NATO hält unermüdlich an der Nukleardoktrin aus dem "Kalten Krieg" fest.

Eine ernstgemeinte Friedenspolitik lehnt selbstverständlich Atomwaffentransporte ab und ist entschiedenst gegen jegliche Diskussion über die Stationierung von NATO-Atomrakten in Österreich. Die politischen Eliten sollten endlich beginnen, die Ansätze, die friedensbewegte Menschen bereits im "Kalten Krieg" über Atomwaffenfreie Zonen diskutierten, aufzugreifen.

Öffentliches Meinungsbild für die Neutralität

Je nach Umfrageinstitut und politischer Anschauung beträgt die Zustimmung zur Neutralität in Österreich im 1998 zwischen 59 und 70 %. Der konservative Klüngel konnte die Öffentlichkeit noch nicht in ihren Bann ziehen. Die Ablehnung, für die Rohstoffinteressen der NATO irgendwo auf der Welt "out of area" zu kämpfen, ist gross. Bei älteren Menschen und bei Frauen ist die Ablehnung der NATO und die Befürwortung der Neutralität besonders ausgeprägt. Manche Meinungsforschungsinstitute lassen sich immer wieder durch die Lockrufe der Verteidigungsministeriums zu Umfragen mit suggestiven Fragestellungen hinreißen. Die NATO-Lockrufe klingen immer gleich: Die NATO ist "neu", die Neutralität ist ein altes Konzept. Wir wollen sicherheitspolitisch mitbestimmen. Daß jedoch nur 14 von über 40 europäischen Staaten der NATO angehören, wird in der Euphorie des "Dabeisein ist alles!" vergessen.

Neutralität steht abseits des militärischen Muskelspiels Eine sicherheitspolitische Mitbestimmung in Europa kann nicht im NATO-Gehorsam bestehen. Echte Solidarität bedeutet nicht Beteiligung der Neutralen an EU-Kriegen und EU-Interventionen. Sie haben vielmehr Gewissen und Instanz für nichtmilitärische Wege zur Konfliktlösung zu sein. Es wird jeweils betont, die militärische Lösung sei nur als letzte Möglichkeit ins Auge zu fassen. Für die vorletzte und vorvorletzte Lösungsmöglichkeit wird jedoch nichts unternommen. Nur 0,015 % des Militärbudgets in Österreich fließen in die Töpfe des Friedenszentrums in Stadtschlaining. Dieses Institut bildet KonfliktbeobachterInnen und FriedensarbeiterInnen aus allen Ecken der Welt für Einsätze auf der ganzen Welt aus. Diese Ausbildung wird für nichtmilitärische Einsätze im Rahmen der UNO und OSZE benötigt. Und in diesem Sinne ist Neutralität zu verstehen: nicht Heraushalten aus Konflikten, sondern das Entwickeln kreativer Lösungsmöglichkeiten. Je mehr Konflikte es weltweit gibt, desto mehr Vermittlungsversuche muß es geben. Ein mehr an Waffen und Militarismus bringen keinen Frieden. Der Frieden in Europa und weltweit kann nur durch nichtmilitärische Kooperationen erreicht werden.

Im Gegensatz zur NATO bindet die OSZE alle Staaten zwischen Vancouver und Wladiwostock in ihr Friedenssystem gleichberechtigt ein. Auf Zwangsmaßnahmen und Gewaltanwendung wird in der OSZE verzichtet. Die Betätigungsfelder liegen in der Konfliktfrühwarnung, nichtmilitärische Krisenbewältigung und der Konfliktnachsorge. Eine aktive Friedens- und Neutralitätspolitik ermöglicht nicht nur ein Engagement in der OSZE, sondern erfordert dies. Warum die Bemühungen der OSZE jedoch so kümmerlich bleiben, veranschaulicht folgender Budgetvergleich: 55 Millionen US $ für die OSZE und 2 000 Millionen für die NATO. Die gesamten Verteidigungsausgaben der NATO-Staaten belaufen sich auf 500 000 Millionen US $.

Gesamteuropäische Vision

Zielvorstellungen vieler Nichtregierungsorganistionen neutraler Staaten innerhalb der EU aber auch in Osteuropa ist die Errichtung einer neutralen Zone quer durch Europa. Diese Zone stellt ein militärisch verdünntes und atomwaffenfreies Gebiet dar, in dem eine Zusammenarbeit nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd eine Grundvoraussetzungen für internationale Sicherheit ist. Der Frieden in Europa und weltweit kann nur durch Kooperation erreicht werden. Die Alternativen zu den nuklear gerüsteten Militärpakten NATO und WEU sind zum einen die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit) und zum anderen die reformierten Vereinten Nationen. Durch internationale Zusammenarbeit ist Neutralität als weltoffene und internationalistische Friedenspolitik zu verstehen. Eine aktiv neutrale Zone als Ort der Begegnung, Abrüstung, des Gesprächs, der glaubwürdigen und ernstgemeinten Friedenspolitik ist für dieses Europa notwendig - gerade in Zeiten des Aufbaus neuer Trennlinien durch die Osterweiterung der NATO. Neutralität steht nicht im Widerspruch zur Solidarität, sondern unterstreicht diese.

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