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Die Folgen der EU-Mitgliedschaft: das ungarische Beispiel

Ungarn ist seit dem 1. Mai 2004 EU-Mitglied. Heute, zwei Jahre nach dem Beitritt, ist die Wirtschaft in einem schlechten Zustand, die Arbeitslosenrate steigt kontinuierlich, besonders unter den Jungen: jeder fünfte Schulabgänger findet heute keinen Job. Die Kleinen und Mittleren Unternehmungen (KMU) machen zu Tausenden Konkurs oder geben auf und die Kleinbauern sehen sich ausser Stande, der unfairen Konkurrenz durch die höher subventionierten Bauern der alten EU zu widerstehen. Übersubventionierte, billige Nahrung von nicht besonders guter Qualität, überschwemmt den ungarischen Markt, und verdrängt die einheimischen Produzenten, die kaum Finanzhilfen erhalten. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Ungarn immer skeptischer bezüglich der wirklichen Gründe der EU-Mitgliedschaft werden.

von Magdolna Csath, Professor of Management and Economics, Doctor of the Hungarian Academy of Sciences. ( Saint Stephan’s University in Gödöllõ, and the International Studies Centre of the Corvinus University, Budapest)

Volle Mitgliedschaft mit ungleichen Rechten

Im Gegensatz zu den ursprünglichen Zielsetzungen der EU geht der freie Personenverkehr und die Freiheit, Dienstleistungen anzubieten, nur in eine Richtung. Jedermann kann kommen und in Ungarn irgend einer Tätigkeit nachgehen. Umgekehrt gilt dies für die Ungarn nicht. Die Mehrheit der ursprünglichen EU-Staaten schränkt den freien Personenverkehr massiv ein. Was aber noch ungerechter ist: beinahe jedes Land ermutigt die Migration von hoch qualifizierten Arbeitskräften. Belgien z.B. hat eben eröffnet, dass Architekten, Finanzexperten, Ingenieure, Krankenschwestern, Ärzte und IT-Spezialisten in Belgien hoch willkommen sind. IT-Spezialisten können sich auch leicht in Deutschland niederlassen. Es findet ein gewollter Abfluss von ausgebildeten Kräften aus Ungarn statt (brain drain): Kräfte, welche in Ungarn mit ungarischen Steuermitteln ausgebildet wurden, stärken so die Wirtschaft der entwickelten EU-Länder, während Ungarn und die anderen armen osteuropäischen Länder ihre einzige Stärke verlieren - nämlich ihr Humankapital.

Die Folge des Brain Drains ist, dass es bereits einen gefährlichen Mangel an Berufskräften in Ungarn hat. Dies ist etwa in den Spitälern festzustellen. Ich konnte vor einigen Wochen selber einen tragischen Fall miterleben. Ein älterer Herr starb an einem Herzinfarkt. Er wurde wegen Herzproblemen in ein Spital gebracht. Da jedoch alle Operationssäle besetzt, alle Ärzte beschäftigt waren und keine Betten zur Verfügung standen, wurde die Familie mit dem Patienten wieder heim geschickt. Sie sollten am nächsten Tag wieder kommen. Während der Nacht starb der Mann. Ähnliche Geschichten kann man oft von Ärzten hören. Diese beklagen die endlosen Überstunden und die Tatsache, dass sie trotz Überarbeitung viele Leben nicht retten können, weil es nicht genügend Ärzte hat. Die Situation wird noch schlimmer werden, wenn die ältere Generation von Ärzten in die Pension geht und die Jungen das Land in Scharen verlassen haben. Die Chancen für Ungarn, ihre Gesundheit zu pflegen oder Krankheiten auszuheilen, werden dadurch kleiner.

Junge Ingenieure, Wirtschafter und andere Berufsleute werden teilweise genötigt das Land zu verlassen, da es in Ungarn zu wenig qualifizierte Jobs für sie hat. Typischer Weise werden die qualifizierten Stellen in von ausländischem Kapital kontrollierten Firmen durch Ausländer aufgefüllt, die weder die lokale Umwelt noch die lokale Kultur kennen. Sie interessieren sich gerade dafür, wie sie am meisten aus ihren Angestellten und Arbeitern, die anderswo keine Arbeit finden, herausholen können. Ausländische Firmen kommen immer noch nach Ungarn wegen der billigen und zuverlässigen Arbeitskräfte und der beispiellosen Unterstützung durch die ungarische Regierung in Form von Steuerbefreiungen, Subventionen und Zugang zu EU-Geldern. Gleichzeitig sind die Arbeitnehmerrechte ungeschützt und die Gewerkschaften sind schwach: die Arbeitnehmer müssen sich alles gefallen lassen, da die Arbeitslosigkeit hoch ist und sie nicht in die alten EU-Länder auswandern können - sie sitzen in der Falle.

Ungarische Dienstleister verlieren ihre Konkurrenzfähigkeit durch ungleiche Bedingungen. Zwei Beispiele, um das Problem zu illustrieren. Ein Taxifahrer aus Sopron, einer Stadt an der österreichischen Grenze, darf Kunden von Ungarn nach Österreich fahren, er darf aber keine Gäste nach Ungarn zurückfahren, selbst wenn er Interessenten hat. Demgegenüber dürfen österreichische Taxifahrer in voller Freiheit in Ungarn ihren Geschäften nachgehen. Oder ein Hotel in Sopron darf eine Gruppe US-Touristen nicht im eigenen Bus am Flughafen Swechat abholen, der viel näher bei Sopron liegt als der Budapester Flughafen. Das Hotel muss einen viel teureren österreichischen Bus organisieren. Umgekehrt dürfen Österreicher in Ungarn Personentransporte nach Belieben organisieren. Dies zwei reale Beispiele, die zeigen, wie ungerecht die unterschiedlichen Geschäftsbedingungen sind, welche zur Verschlechterung der ungarischen Konkurrenzfähigkeit beitragen und zum Verlust von Arbeitsplätzen führen.

Willkürliche EU-Regeln verunmöglichen es den ungarischen Firmen, Nutzen aus der Mitgliedschaft zu ziehen, da keine Übergangsbestimmung bezüglich der Übernahme der EU-Regulierungen festgelegt wurden. Dies ist einer der Hauptgründe für die Probleme der ungarischen Wirtschaft. Auch dies kann am besten mit einem Beispiel illustriert werden. Trockenreinigungsfirmen verwendeten in Ungran ein Produkt, das von ungarischen Produzenten bezogen werden konnte. Nach dem EU-Beitritt mussten sie dieses gegen ein anderes Produkt tauschen, das nur im Ausland erhältlich ist – in den alten EU-Ländern – für einen viel höheren Preis. Zudem kann dieses Produkt in den hiesigen Maschinen nicht verwendet werden und so mussten die Trockenreinigungsmaschinen ausgewechselt werden. Die neuen Maschinen mussten in den alten EU-Ländern gekauft werden. Zur Rechtfertigung dieser Umtriebe wurde vorgebracht, das ungarische Produkt sei zuwenig umweltfreundlich. Die Vertreter der ungarischen Reinigungsindustrie erklären die Angelegenheit jedoch anders: sie glauben, dass die Regulierung dazu dient, zusätzliche Märkte für die Industrie der alten EU-Ländern zu erschliessen. Dies ist eine recht plausible Erklärung, da die EU in den neuen Mitgliedsländern sonst bezüglich Umweltschutz nicht besonders empfindlich ist. In vielen Fällen können die grossen Firmen die Umwelt verpesten, ohne das dies zu ernsthaften Fragen oder Untersuchungen führen würde. Die Folgen der schnell auferlegten EU-Regulierungen auf die KMU's waren verheerend: jene Geschäfte, die nicht genügend liquid waren, um die zusätzlichen Investitionen zu tätigen, mussten schliessen.

Die ursprünglichen Versprechen

Vor dem EU-Beitritt waren keine objektiven Informationen über mögliche Gefahren der Mitgliedschaft verfügbar. Ich versuchte etwa, finanzielle Unterstützung für die Publikation eines Führers für ungarische KMU's zu erhalten, damit sich diese besser auf die Mitgliedschaft hätten vorbereiten können. Die Organisation, welche den Auftrag hatte, die ungarische Gesellschaft über die Chancen und Risiken der Mitgliedschaft zu informieren, antwortete auf meine Anfrage: “Wir können keine negativen Kampagnen finanzieren”. Dies war eine recht seltsame Antwort, da es doch für das Land besser gewesen wäre, wenn die Leute und die Unternehmungen besser vorbereitet gewesen wären, um mit den Problemen der Mitgliedschaft umzugehen. Es ist beinahe sicher, dass besser vorbereitete KMU's besser Überlebenschancen gehabt hätten. Statt Information gab es eine massive, pro-EU-Beitritts-Kampagne. Die Politiker und die Medien versprachen das Blaue vom Himmel, unerhörte Möglichkeiten, viel Geld, Arbeit und steigenden Lebensstandard. Grosse Plakatwände verprachen tatsächlich, jedermann dürfe künftig in Wien ein Kaffee-Haus eröffnen. Kritische oder skeptische Stimmen wurden brutal unterdrückt. es gab überhaupt keinen Platz und keine Sendezeit für eine seriöse professionelle Debatte über die Folgen der Mitgliedschaft. Trotz dieser massiven, lügenhaften und manipulierten Abstimmungskampagne gingen wenige Menschen zur Urne. Insgesamt stimmten nur 38% der Stimmberechtigten für die Mitgliedschaft - mit einer Stimmbeteiligung von 45.6% ergibt das dann einen Ja-Anteil von 84%)

Folgen und künftige Probleme

Es gibt viele Forschungen, die zum Schluss kommen, dass die neuste Erweiterung der EU nur dazu diente, für die alten EU-Länder neue Ressourcen zu organisieren: Märkte, billige Arbeitskräfte, die für ein paar Jahre immobil und dadurch billig gehalten werden können, Unternehmungen, die durch die Auferlegung von EU-Regulierungen wettbewerbsunfähig gemacht werden können und deshalb billig eingekauft werden können, Steuererleichterungen, billiges und fruchtbares Land und junge, talentierte Menschen, um zu Hause Ausbildungskosten einsparen zu können. Ein britischer Bericht spricht sogar von einer “Neu-Kolonisierung” des "Ostens" durch den "Westen" (J.Böröcz-M Kovacs: Empire's New Clothes: Unveiling EU Enlargement. Central European Review 12, 2001). Und in der Tat gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass diese Meinung berechtigt ist. Die Menschen öffnen ihre Augen und sehen, dass “der König nackt ist”! Was werden aber die Folgen dieser Situation für die Zukunft der EU sein? Kurzfristiges Denken hat einem Land oder einer Region nie geholfen, eine nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen. Die Entwicklung der EU-Wirtschaft ist bereits geschwächt und die sozialen Probleme nehmen zu. Das soziale Kapital der EU wird schwächer: die Bürgerinnen und Bürger misstrauen den EU-Führern, die alten EU-Länder misstrauen den neuen. Protektionismus gegen die neuen Mitgliedsländer ist überall sichtbar. Nationalismus ist eine stärkerwerdendes Phänomen in den alten und in den neuen Mitgliedstaaten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die "Alten" haben den Eindruck, ihr Reichtum sei durch die "Neuen" bedroht, während die "Neuen" sich mehr und mehr als Opfer sehen, die ausgebeutet werden. Sie wollen deshalb wieder vermehrt ihre nationalen Interessen schützen.

Mögliche Lösungen

Die EU müsste zuerst ihre offiziellen Zielsetzungen respektieren und den Menschen und Betrieben der neuen Mitgliedsländern die gleichen Rechte und Möglichkeiten anbieten wie denen der alten Länder. Die steigende Unzufriedenheit der Bewohner der neuen Mitgliedsländer sollte ernst genommen werden. Statt Lippenbekenntnisse zur Demokratie, die darin bestehen, dass man einen EU-Kommissar mit dem Dossier "mehr Demokratie" herumschickt, der dann praktisch nur die Vertreter der politischen Klasse und einiger ausgewählter Organisationen trifft, sollte man versuchen, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern - indem man z.B. mehr Informationen über die Entscheidungsprozesse der EU zur Verfügung stellt und Einfluss auf den EU-Entscheidungsprozess ermöglicht. Eine entpolitisierte, uninteressierte Bevölkerung ist keine gute Quelle für Kreativität und Initiative, die für die EU-Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist. Es wäre auch von Vorteil, wenn man die neuen Mitgliedstaaten als Partner und nicht als Untergebene betrachtet. Es gibt genügend kreative Fähigkeiten in den neuen Mitgliedstaaten. Wenn man aber die Bevölkerungen vor Ort nicht bezüglich lokaler Lösungen befragt und ihnen zuhört, wenn man ihnen statt dessen anderswo entwickelte Lösungen einfach auferlegt, dann werden die Leute zynisch. Sie werden ihre Energie darauf verwenden, die zentralen Regeln und Regulierungen zu umgehen. Es lohnt sich daran zu erinnern, dass die Untergebenen des früheren Sowjetreichs entsprechende Erfahrungen gesammelt haben. Es ist Zeit, dass man die Idee einer wissensbasierten Wirtschaft praktiziert, statt sie nur zu predigen. Man muss von der Ausbeutung der Ressourcen der neuen Mitgliedstaaten wegkommen und die Bevölkerungen einbeziehen und in den Prozess der partizipativen Wissensgesellschaft voll integrieren.


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26.06.2006

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